Mittwoch, 15 September 2021 : Kommentar Rupert von Deutz

„Frau, siehe, dein Sohn! – Siehe, deine Mutter!“ Mit welchem Recht kann der Jünger, den Jesus liebte, Sohn der Mutter des Herrn sein? Mit welchem Recht ist sie seine Mutter? Weil sie die Ursache des Heiles aller Menschen ohne Schmerzen gebar, als sie in ihrem Fleisch den menschgewordenen Gott zur Welt brachte. Nun aber gebiert sie unter großen Schmerzen am Fuße des Kreuzes. Als die Stunde seines Leidens nahte, hatte der Herr die Apostel zu Recht mit einer gebärenden Frau verglichen: „Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert, weil ihre Stunde da ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist“ (Joh 16,21). Um wieviel mehr kann ein solcher Sohn eine solche Mutter, diese Mutter, die am Fuße des Kreuzes steht, mit einer gebärenden Frau vergleichen? Was sage ich – vergleichen? Sie ist wahrhaftig Frau und wahrhaftig Mutter und hat in dieser Stunde wahrhaftig Geburtsschmerzen. Als sie ihr Kind zur Welt brachte, hatte sie keine Geburtsschmerzen wie andere Frauen; jetzt aber leidet sie, jetzt ist sie mitgekreuzigt, jetzt ist sie bekümmert wie eine Gebärende, weil ihre Stunde da ist (vgl. Joh 13,1; 17,1). […] Wenn diese Stunde vorüber ist, wenn dieses Schwert des Schmerzes ganz durch ihre gebärende Seele gedrungen ist (vgl. Lk 2,35), dann wird auch sie „nicht mehr an ihre Not denken über der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist“ – der neue Mensch, der das ganze Menschengeschlecht erneuert und ohne Ende über die ganze Welt herrscht. Er ist wahrhaft geboren, jenseits aller Leiden, unsterblich, der Erstgeborene der Toten. Wenn die Jungfrau in der Passion ihres einzigen Sohnes so unser aller Heil geboren hat, dann ist sie tatsächlich unser aller Mutter.

Zuletzt geändert: 15 September 2021