Sonntag, 10 Oktober 2021 : Kommentar Sel. Columba Marmion

Betrachten wir den Heiland, der in allem unser Vorbild ist, und dem wir aus Liebe folgen wollen. Was lehrt uns sein Leben? Er hat sich sozusagen mit der Armut vermählt. Er war Gott […] Dieser Gott nun wird Mensch, um uns zu sich zurückzuführen. Welchen Weg wählt er dazu? Den der Armut! Als das ewige Wort in diese Welt kam, wollte er, der König des Himmels und der Erde, in seiner göttlichen Weisheit alle einzelnen Umstände seiner Geburt, seines Leidens und Todes so anordnen, dass die Armut, die Verachtung der Güter dieser Welt dabei am meisten hervortritt. Selbst die ärmsten Menschenkinder werden sonst wenigstens unter einem Dach geboren. Er aber erblickte das Licht der Welt in einem Stall auf Stroh, „in einer Krippe“; denn für seine Mutter „war kein Platz in einer Herberge“ (Lk 2,7). In Nazareth führt er das verborgene Leben eines armen Handwerkers. „Ist dieser nicht des Zimmermanns Sohn?“ (Mt 13,55). Später im öffentlichen Leben hat er nichts, wohin er sein Haupt hinlegen konnte, wo „doch selbst die Füchse ihre Höhlen haben“ (Lk 9,58). Zur Stunde seines Todes wollte er seiner Kleider beraubt und nackt an das Kreuz geheftet werden. Er lässt die Schergen sich seines von seiner Mutter gewebten Gewandes bemächtigen; seine Freunde haben ihn verlassen; von seinen Jüngern sieht er nur den hl. Johannes bei sich. Doch seine Mutter wenigstens bleibt ihm? Nein, er übergibt sie seinem Jünger! „Siehe da, deine Mutter!“ Ist dies nicht die vollständigste Entblößung? Und doch findet er Mittel, auch diesen äußersten Grad der Entblößung noch zu übersteigen, bleiben ihm ja noch die himmlischen Freuden, die sein Vater in seine allerheiligste Menschheit überströmen lässt. Er verzichtet auch darauf, und nun verlässt ihn sozusagen auch der Vater: „Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen!“ (Joh 19,27). Er bleibt ganz allein hängen zwischen Himmel und Erde! […] Wenn man Jesus betrachtet arm in der Krippe, in Nazareth, am Kreuze, wie er uns die Hände entgegenstreckt und sagt: „Es geschah für euch“, dann versteht man die „Torheiten“ aller Liebhaber der Armut. Wir sollten darum die Augen auf den göttlichen Armen von Bethlehem, Nazareth und Golgotha gerichtet halten!

Zuletzt geändert: 10 October 2021