Mittwoch, 12 Januar 2022 : Kommentar Johannes Cassianus

Ich halte es für unmöglich, alle Gebetsformen voneinander abzugrenzen (es sei denn, es handelt sich um eine ganz besondere Reinheit des Herzens und außerordentliche Erleuchtungen des Heiligen Geistes). Ihre Zahl ist so groß, wie sie eben in einer Seele oder vielmehr in allen Seelen vorkommen kann, in ihren verschiedenen Zuständen und Verfassungen. […] Das Gebet wandelt sich jeden Augenblick, je nach dem Grad der Reinheit, zu dem die Seele gelangt ist, und je nach ihrer gegenwärtigen Verfassung, ob diese durch fremde Einflüsse hervorgerufen oder spontan entstanden ist; und es steht fest, dass es bei niemandem zu allen Zeiten gleich bleibt. Man betet unterschiedlich, je nachdem, ob das Herz leicht oder von Trauer und Verzweiflung niedergedrückt ist; anders in der Begeisterung des übernatürlichen Lebens als in der Niedergeschlagenheit heftiger Versuchungen; anders, wenn man um die Vergebung seiner Fehler fleht, als wenn man um eine Gnade, eine Tugend oder um die Heilung von einem Laster bittet; anders in der Zerknirschung, die durch den Gedanken an die Hölle und die Furcht vor dem Gericht eingeflößt werden, als wenn man vor Sehnsucht und Hoffnung auf die künftigen Güter brennt; anders inmitten von Not und Gefahr als in Frieden und Sicherheit; anders, wenn man sich bei der Offenbarung himmlischer Geheimnisse von Licht überflutet fühlt, als wenn man durch Fruchtlosigkeit in der Tugend und Trockenheit des Geistes wie gelähmt ist. […] Auf diese verschiedenen Arten des Gebets wird ein noch erhabenerer Zustand und eine übernatürliche Erhebung folgen: Das ist ein Blick auf Gott allein, ein gewaltiges Feuer der Liebe. Die Seele verschmilzt und versinkt darin in heiliger Liebe und unterhält sich mit Gott wie mit ihrem eigenen Vater, sehr vertraut, in einer ganz besonderen hingegebenen Zärtlichkeit.

Zuletzt geändert: 12 January 2022