Dienstag, 15. November : Sel. Columba Marmion

Eine der größten Offenbarungen, welche unser Herr und Heiland durch seine Menschwerdung uns gemacht hat, ist diese, dass Gott ein unendliches Verlangen hat, sich unseren Seelen mitzuteilen, um deren Glückseligkeit zu sein. Gott hätte die ganze Ewigkeit in der fruchtbaren Einsamkeit seiner dreieinigen Gottheit verbleiben können; er brauchte das Geschöpf nicht; denn ihm mangelt nichts, ihm, der allein die Fülle alles Seins und die erste Ursache aller Dinge ist: „Du bedarfst meiner Güter nicht“ (Ps 15,2). Nachdem er aber in der völligen und unveränderlichen Freiheit seines allerhöchsten Willens beschlossen hatte, sich uns zu geben, ist das Verlangen, diesen Willen zu verwirklichen, unendlich. Wir könnten bisweilen versucht sein zu glauben, dass Gott „gleichgültig“, sein Verlangen sich mitzuteilen, unbestimmt, ohne Wirkkraft sei. Das sind aber menschliche Auffassungen, Bilder der Schwäche unserer gar zu oft unbeständigen und ohnmächtigen Natur. […] Hierin, wie in allem, was unser übernatürliches Leben betrifft, dürfen wir uns nicht von unseren Vorstellungen, müssen uns vielmehr vom Lichte der Offenbarung leiten lassen. Wir müssen Gott selbst anhören, wenn wir das göttliche Leben kennenlernen wollen. Wir müssen uns an Christus, den vielgeliebten Sohn, wenden, der immer „im Schoße des Vaters“ ist (Joh 1,18), und der uns selbst die göttlichen Geheimnisse offenbarte: „Er selbst hat es uns gesagt“ (ebd.). Und was sagt er uns? Dass „Gott so sehr die Welt geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingab“ (Joh 3,16), damit er unsere Gerechtigkeit, unsere Erlösung, unsere Heiligkeit sei. […] Und weil Gott uns liebt, verlangt er mit einer Liebe ohne Grenzen, mit einem wirksamen Willen, sich uns zu geben.

Zuletzt geändert: 15 November 2022