[Die heilige Hildegard schaut in einer Vision, wie Laster und Tugenden sich miteinander unterhalten:]
– Die Worte der Welttrauer: „Wehe, dass ich erschaffen worden bin! Wehe, dass ich lebe! Wer wird mir helfen? Wer wird mich befreien? Wenn Gott mich kennen würde, würde ich nicht in einem so großen Elend stecken.
Dass ich auf Gott vertraue, bringt mir nichts Gutes; dass ich mich mit ihm freue, nimmt nicht das Übel von mir. […] Wenn Gott mein ist, warum verbirgt er seine Gnade vor mir? Wenn er mir doch etwas Gutes zuwenden würde, dann könnte ich ihn erkennen. Ich weiß aber nicht, was ich bin. Ich bin im Unglück erschaffen, im Unglück geboren und lebe ohne jeglichen Trost. Ach, was nützt mir ein Leben ohne Freude? […]“
– Die Antwort der Himmelsfreude: „[…] Gott hat den Menschen als lichtes Wesen erschaffen […]. Du weißt nicht und bedenkst nicht, welches Heil von Gott kommt! Wer gibt dir das, was du an Lichtem und Gutem hast, wenn nicht Gott? […] Wenn dir das Heil nahe ist, behauptest du, es sei ein Fluch; und wenn alle Ursachen und Dinge gut sind, dann sagst du, sie seien böse. […] Ich lobe alle Werke Gottes. In all dem ziehst du jedoch nur schmerzlichen Schmerz an dich, weil du in all deinen Werken traurig bist. […] So mache ich es nicht, sondern ich schenke all meine Werke Gott. Denn in mancher Traurigkeit findet sich noch Frohsinn, doch in gewisser Freude gibt es kein Glück […].
[…] Deshalb trocknet alles, was in ihr lebendig ist, aus, weil sie den geistlichen Lebenshauch nicht hat. […] In Trübsal zieht sie alles an sich und sehnt sich auch nicht danach Freude zu haben. Den Freund lädt sie nicht mit Fröhlichkeit ein, den Feind besänftigt sie nicht. Dagegen versteckt sie sich im Loch des Verdrusses, weil sie sich vor allen ängstigt, die vorübergehen. In all dem gleicht sie dem Tod, weil sie nicht nach dem Himmel lechzt.