Hab keine falsche Scheu vor dem, der dir etwas Schlechtes über seinen Nächsten sagt, sondern antworte ihm vielmehr: „Hör auf, Bruder! Ich selbst falle täglich in noch größere Verfehlungen; wie könnte ich daher diesen verurteilen?“ Auf diese Weise wirst du einen doppelten Gewinn erzielen: Mit einem einzigen Heilmittel wirst du dich selbst und deinen Nächsten heilen.
Das ist einer der kürzesten Wege, die zur Vergebung der Sünden führen, ich meine, nicht zu urteilen, wenn das Wort wahr ist: „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden“ (Lk 6,37). […]
Selbst wenn du siehst, dass jemand auf seinem Sterbebett sündigt, so richte ihn auch dann nicht, denn Gottes Urteil ist für den Menschen unergründlich. Einige haben vor aller Augen große Sünden begangen, aber im Verborgenen haben sie noch größere Taten der Tugend vollbracht. Es irrten sich also ihre Verleumder, indem sie nur dem Rauch nachgingen, ohne die Sonne zu sehen.
Hört mir zu, hört alle her, die ihr voller Bosheit über die Taten anderer urteilt! Wenn das Wort wahr ist – und das ist es ganz sicher –: „Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden“ (Mt 7,2), dann werden wir in die gleichen Sünden fallen, die wir unserem Nächsten vorwerfen, seien sie seelischer oder körperlicher Natur. So viel steht fest.
Vorschnelle und strenge Richter ihrer Mitmenschen verfallen dieser Leidenschaft, weil sie die Erinnerung an und die beständige Sorge um ihre eigenen Sünden nicht vollkommen bewahren. Denn wenn jemand, vom Schleier der Selbstliebe befreit, seine eigenen Übel genau anschauen würde, würde er sich für den Rest seines Lebens um nichts anderes mehr kümmern, in dem Gedanken, dass die Zeit, die ihm noch verbleibt, nicht einmal ausreicht, um über sich selbst zu trauern, selbst wenn er hundert Jahre leben und alle Wasser des Jordans in Strömen von Tränen aus seinen Augen fließen sähe. […]
Andere zu verurteilen bedeutet, sich schamlos ein göttliches Vorrecht anzumaßen; sie zu verdammen bedeutet, unsere eigene Seele zu ruinieren.