Was ist mit dem „Gesetz des Herrn“ gemeint? Der 118. [119.] Psalm […] ist ganz erfüllt vom Verlangen, das Gesetz zu erkennen und sich von ihm durchs Leben leiten zu lassen. Der Psalmist mag wohl dabei an das Gesetz des Alten Bundes gedacht haben. Seine Kenntnis verlangte ja tatsächlich ein lebenslanges Studium und seine Erfüllung eine lebenslange Willensanstrengung.
Von dem Joch dieses Gesetzes aber hat der Herr uns freigemacht. Als das Gesetz des Neuen Bundes können wir das große Liebesgebot des Heilandes betrachten, von dem er sagt, dass es das ganze Gesetz und die Propheten in sich schließe: die vollkommene Gottes- und Nächstenliebe wäre wohl ein würdiger Gegenstand für die Betrachtung eines ganzen Lebens.
Noch besser aber verstehen wir unter dem Gesetz des Neuen Bundes den Herrn selbst, da er uns ja das Leben, das wir leben sollen, vorgelebt hat. Dann erfüllen wir unsere Regel, wenn wir das Bild des Herrn stets vor Augen haben, um uns ihm nachzugestalten. Das Evangelium ist das Buch, das wir niemals ausstudieren können. Wir haben den Heiland aber nicht nur in den Zeugenberichten über sein Leben. Er ist uns gegenwärtig im Allerheiligsten Sakrament, und die Stunden der Anbetung vor dem Höchsten Gut, das Lauschen auf die Stimme des eucharistischen Gottes sind „Betrachten im Gesetz des Herrn“ und „Wachen im Gebet“ zugleich. Die höchste Stufe aber ist erreicht, wenn „das Gesetz mitten in unserem Herzen wohnt“ (Ps 39(40),11).