Der Herr selbst ist gekommen, ein Lehrer der Liebe, erfüllt von Liebe. […] Denkt mit mir nach, Brüder, über das Wesen dieser beiden Gebote. Sie sollten euch wohlbekannt sein und nicht nur dann in den Sinn kommen, wenn wir sie in Erinnerung rufen, sondern nie aus unseren Herzen verschwinden: Das ist unsere Pflicht.
Denkt immer wieder daran, dass ihr Gott und euren Nächsten lieben sollt. Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken [… und] deinen Nächsten lieben wie dich selbst (vgl. Mt 22,37.39). […] Die Liebe zu Gott ist die erste in der Ordnung des Gebots, die Liebe zum Nächsten aber ist die erste in der Ordnung der Ausführung. Derjenige, der dir diese Liebe in zwei Geboten vorschrieb, konnte dir nämlich nicht gebieten, zuerst deinen Nächsten und dann Gott zu lieben, sondern Gott und den Nächsten.
Nur indem du den Nächsten liebst, verdienst du es, Gott zu schauen, den du noch nicht siehst. Durch die Liebe zum Nächsten reinigst du dein Auge, um Gott zu schauen. Für Johannes ist das ganz offensichtlich: „Wenn du deinen Bruder, den du siehst, nicht liebst, wie kannst du dann Gott lieben, den du nicht siehst?“ (vgl. 1 Joh 4,20). Es wird dir gesagt: Liebe Gott. Wenn du darauf sagst: Zeige mir den, den ich lieben soll –, was soll ich dir da antworten, wenn nicht das, was Johannes selbst sagt: „Niemand hat Gott je gesehen“ (Joh 1,18). Und doch sollst du nicht meinen, dass dir die Schau Gottes völlig fremd sei: „Gott,“ sagt Johannes, „ist die Liebe, und wer in der Liebe bliebt, bleibt in Gott“ (1 Joh 4,16).
Liebe also den Nächsten, und betrachte die Quelle dieser Nächstenliebe in dir; dort wirst du, soweit es möglich ist, Gott schauen. […] „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte“ (Jes 58,8). Dein Licht ist dein Gott, er ist für dich das Morgenrot, denn er wird die Nacht dieser Weltzeit ablösen: Er geht weder auf noch unter, sondern bleibt in Ewigkeit.