In der Vollkommenheit der Liebe gegründet, wird man sich zu einem noch ausgezeichneterem und höherem Grad emporschwingen, nämlich zur Furcht aus Liebe. Diese entspringt weder der Angst vor Strafe noch dem Verlangen nach Belohnung, sondern der Größe der Liebe selbst. Sie ist diese Mischung aus Achtung und aufmerksamer Zuneigung, die ein Sohn seinem nachsichtigen Vater entgegenbringt, ein Bruder seinem Bruder, ein Freund seinem Freund, eine Braut ihrem Bräutigam.
Sie fürchtet weder Schläge noch Vorwürfe; was sie fürchtet ist, die Liebe zu verletzen, und sei diese Verletzung auch noch so geringfügig. […]
So ist der Abstand beträchtlich zwischen der Furcht, die nicht aus einem Mangel, sondern aus dem Reichtum der Weisheit und der Erkenntnis kommt, und der unvollkommenen Furcht. Letztere ist nur „der Anfang der Weisheit“ (Ps 111(110), 10) und wird – da sie Strafe beinhaltet – aus den Herzen der Vollkommenen verbannt, sobald die Fülle der Liebe einzieht: Denn „Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht“ (1 Joh 4,18). In der Tat, wenn der Anfang der Weisheit in der Furcht besteht, worin wird dann ihre Vollkommenheit bestehen, wenn nicht in der Liebe Christi, die die Furcht aus vollkommener Liebe einschließt und deshalb verdient, nicht mehr nur Anfang der Weisheit, sondern Reichtum der Weisheit und der Erkenntnis genannt zu werden? […]
Das also ist die Furcht der Vollkommenen, von der gesagt wird, dass der Gottmensch von ihr erfüllt war, er, der nicht nur gekommen ist, um uns zu erlösen, sondern der uns in seiner Person auch das Vorbild der Vollkommenheit und ein Beispiel der Tugenden gegeben hat.