Die Begegnung mit dem Christentum veranlasste [Edith Stein] nicht dazu, ihren jüdischen Wurzeln abzuschwören, sondern bewirkte, diese in ihrer ganzen Fülle wiederzuentdecken. […] In Wirklichkeit vollzog sich ihr Weg christlicher Vervollkommnung nicht nur im Zeichen der menschlichen Solidarität mit ihrem Volk, sondern auch einer echten geistlichen Teilhabe an der Berufung der Kinder Abrahams, die das Zeichen des Geheimnisses der Berufung und der „unwiderruflichen Gaben“ Gottes in sich tragen (vgl.
Röm 11, 29).
Sie machte sich insbesondere das Leiden des jüdischen Volkes zu eigen, je mehr sich dieses in jener grausamen nazistischen Verfolgung zuspitzte, die neben anderen schwerwiegenden Äußerungen des Totalitarismus einer der dunkelsten Schandflecke Europas in unserem Jahrhundert bleibt. Da ahnte sie, dass in der systematischen Ausrottung der Juden ihrem Volk das Kreuz Christi aufgebürdet wurde. Als persönliche Teilhabe an diesem Kreuz erlebte sie ihre eigene Deportation und Hinrichtung in dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. […]
Wir blicken heute auf Teresia Benedicta a Cruce. In ihrem Zeugnis als unschuldiges Opfer erkennen wir einerseits die Nachahmung des Opferlammes und den Protest, der sich gegen alle Vergewaltigungen der Grundrechte der Person erhebt, andererseits das Unterpfand für jene neu belebte Begegnung zwischen Juden und Christen, die auf der vom Zweiten Vatikanischen Konzil gewünschten Linie eine vielversprechende Zeit gegenseitiger Öffnung erfährt. Wenn heute Edith Stein zur Mitpatronin Europas erklärt wird, soll damit auf dem Horizont des alten Kontinents ein Banner gegenseitiger Achtung, Toleranz und Gastfreundschaft aufgezogen werden, das Männer und Frauen einlädt, sich über die ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen, um eine wahrhaft geschwisterliche Gemeinschaft zu bilden. Europa soll also wachsen! Es soll wachsen als Europa des Geistes auf dem Weg seiner besseren Geschichte, die gerade in der Heiligkeit ihren erhabensten Ausdruck findet.