Um Demut zu erlangen, gibt es keinen direkteren und geeigneteren Weg, als sich selbst in der Wahrheit zu begegnen. Es genügt, nichts zu verstecken, den Geist der Falschheit zu vertreiben und sich selbst zu begegnen, ohne auszuweichen. Wird die Seele, wenn sie sich so im Licht der Wahrheit betrachtet, nicht feststellen, dass sie sich im „Bereich der Unähnlichkeit“ befindet? Wird sie dann nicht traurig seufzen, weil ihr wahres Elend nicht länger verborgen bleiben kann, und mit dem Propheten zum Herrn rufen: „In deiner Wahrheit hast du mich demütig gemacht“ (Ps 118,75 Vulg.
)? Und wie sollte sie nicht von Demut durchdrungen sein, wenn sie sich in aller Wahrheit erkennt? Denn die Seele fühlt sich unter der Last der Sünde […] blind, in sich selbst zurückgezogen, kraftlos, vielen Irrtümern unterworfen, tausend Gefahren ausgesetzt, von tausend Ängsten beunruhigt, von tausend Problemen gequält, von tausend Verdächtigungen geplagt, von tausend Bedürfnissen beansprucht, mit der Neigung zum Laster und ohne Kraft zur Tugend. Wird sie nun immer noch überheblich dreinschauen und hocherhobenen Hauptes einhergehen? Wenn das Leiden sie wie ein Dorn durchdringt, wird sich die Seele dann nicht diesem zuwenden? Ich meine, sie wird sich den Tränen zuwenden, dem Weinen und Klagen, sie wird sich dem Herrn zuwenden und in Demut schreien: „Heile meine Seele, denn ich habe gegen dich gesündigt“ (Ps 40,5 Vulg.). Kaum hat sich die Seele dem Herrn zugewandt, wird sie Trost empfangen, denn er ist „der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes“ (2 Kor 1,3). […] Nach einer solchen Erfahrung offenbart sich Gott als Retter. […] So ist das Erkennen deiner selbst ein Schritt, um Gott zu erkennen. Indem er sein Bild in dir erneuert, wird er selbst sichtbar. Denn wenn du mit unmaskiertem Gesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel widerspiegelst, wirst du in dasselbe Bild verwandelt, immer schärfer und klarer, wie es dem Wirken des Geistes Gottes entspricht (vgl. 2 Kor 3,18).