Wie aber kann das kleine menschliche Auge den Gott schauen, den die Welt nicht fassen kann? Doch die Macht der Liebe fragt nicht, was sein wird, was sein soll, was sein kann. Die Liebe kennt […] kein Maß. Die Liebe ist trostlos ob des Unmöglichen; von Schwierigkeiten lässt sie sich nicht aufhalten.
[…] Die Liebe kann nicht darauf verzichten, zu sehen, was sie liebt […]. Wie sollte jemand glauben, dass Gott ihn liebt, wenn Gott ihn seines Anblicks nicht würdigte? Daher hat die Liebe, wenn sie Gott zu sehen trachtet, wenn auch keinen vernünftigen, so doch einen großen Eifer in der Liebe. Darum wagte Mose zu sagen: „Wenn ich also Gnade in deinen Augen gefunden habe, so zeige mir dein Angesicht“ (Ex 33,13 Vulg.), und ein anderer sprach: „Zeige mir dein Angesicht!“ (vgl. Ps 79(80),4) Vulg.). […]
Da Gott also wusste, dass die Sterblichen durch ihr Verlangen, ihn zu sehen, gequält und ermüdet würden, so wählte er einen Weg aus, um sich ihnen sichtbar zu machen, ohne dabei den irdischen Menschen und den himmlischen Bewohnern klein zu erscheinen. Denn was Gott auf Erden als sein Ebenbild geschaffen hat, wie hätte er dies im Himmel ohne Ehrung lassen können? „Lasst uns den Menschen machen“, heißt es ja, „nach unserem Bild und unserer Ähnlichkeit!“ (vgl. Gen 1,26 Vulg.). […] Wenn Gott die Gestalt eines Engels vom Himmel angenommen hätte, wäre er, ebenso wie dieser, unsichtbar geblieben. Hätte er aber von der Erde eine Gestalt angenommen, die unter dem Menschen steht, so wäre es eine Entehrung der Gottheit gewesen und hätte den Menschen entwürdigt, nicht erhoben. Niemand also, Geliebteste, soll es für eine Entehrung Gottes halten, wenn Gott in Menschengestalt zu den Menschen kam und aus uns unser Wesen annahm, um von uns gesehen zu werden […].