Hl. Gregor der Große

„Denn kein Heuchler kommt vor sein Angesicht“ (Ijob 13,16 Vulg.). Da es doch sicher ist, dass der Richter bei seinem Kommen die Lämmer zu seiner Rechten und die Böcke zu seiner Linken stellen wird, warum wird nun gesagt, dass kein Heuchler vor sein Angesicht kommt, obwohl doch der Heuchler, da er selbstverständlich zu den Böcken zählt, zur Linken seines Richters stehen wird? Aber man muss wissen, dass es zwei Arten gibt, vor das Angesicht des Herrn zu kommen: Zunächst in dieser Welt, wenn wir uns beim gewissenhaften Erwägen unserer Sünden vor sein Angesicht begeben und unter Tränen zu unseren eigenen Richtern werden.

Ja, wann immer wir uns der Macht unseres Schöpfers wieder bewusstwerden, befinden wir uns vor dem Angesicht des Herrn. […] Wir werden auch auf andere Weise vor das Angesicht des Herrn kommen: am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn wir vor seinem Richterstuhl erscheinen. […] Wenn der Gerechte die Strenge des künftigen Richters betrachtet, erinnert er sich an seine Sünden, er beklagt das Böse, das er begangen hat, und wird mit Strenge sein eigener Richter, um nicht gerichtet zu werden; umgekehrt dagegen der Heuchler: Je mehr er äußerlich den Menschen gefällt, desto mehr verschmäht er es, sich innerlich selbst zu betrachten. Er überlässt sich ganz dem Urteil seiner Umgebung und bildet sich ein, er sei ein Heiliger, weil er meint, dass die Leute ihn für einen solchen halten. Und während er seinen Geist mit den Worten, die ihn loben, beschäftigt, bedenkt er nie, wodurch er seinen inneren Richter beleidigt. Von seiner Strenge fürchtet er nichts, denn er glaubt, ihm ebenso sehr gefallen zu haben wie den Menschen. […] Es ist daher weise, zu sagen: „Kein Heuchler kommt vor sein Angesicht“, da dieser sich die Strenge Gottes nicht vor Augen hält, wenn er darauf versessen ist, menschlichen Augen zu gefallen. Wenn er aber seine Seele erforschte, wenn er sich vor das Angesicht Gottes stellen würde, dann wäre er kein Heuchler mehr.

Quelle: Evangelizo

Zuletzt geändert: 10 March 2025