Hl. Augustinus

Achten wir darauf, wie sehr der Apostel Johannes die Bruderliebe empfiehlt. Er sagt: „Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht und in ihm gibt es keinen Anstoß“ (1 Joh 2,10). Es ist offenkundig, dass er die vollkommene Gerechtigkeit in die Bruderliebe verlegt. Denn derjenige, in dem kein Anstoß ist, ist fürwahr vollkommen.

Und doch scheint er [Johannes] von der Gottesliebe geschwiegen zu haben. Das würde er niemals tun, wenn er nicht unter der Bruderliebe auch die Gottesliebe verstanden wissen wollte. […] Wer nicht in Gott ist, ist nicht im Licht, denn „Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm“ (1 Joh 1,5). Wenn also jemand nicht im Licht ist, wen wundert es, wenn er das Licht nicht sieht, das heißt, wenn er Gott nicht sieht, weil er in der Finsternis ist? Den Bruder aber sieht er mit rein menschlichem Blick, mit dem Gott nicht gesehen werden kann. Würde er aber diesen Bruder, den er mit menschlichen Augen sehen kann, mit geistiger Liebe lieben, dann würde er Gott, der die Liebe selbst ist, mit jenem inneren Auge sehen, mit dem er gesehen werden kann. Wer also den Bruder, den er sieht, nicht liebt, wie kann der Gott lieben, den er eben nicht sieht, weil Gott Liebe ist, und weil diese Liebe demjenigen fehlt, der seinen Bruder nicht liebt? Auch soll uns die Frage nicht beunruhigen, wieviel Liebe wir dem Bruder und wieviel Liebe wir Gott schenken müssen: Gott unvergleichlich mehr als uns, dem Nächsten so viel wie uns selbst. Uns selbst aber lieben wir umso mehr, je mehr wir Gott lieben. Mit ein und derselben Liebe lieben wir also Gott und den Nächsten, Gott jedoch um Gottes willen, uns aber und den Nächsten um Gottes willen.

Quelle: Evangelizo

Zuletzt geändert: 28 March 2025