Hl. John Henry Newman

Als Christus vor Pilatus stand, weigerte er sich, für sich selbst Zeugnis abzulegen oder zu sagen, wer er war und woher er kam. Er war unter seinen Zeitgenossen „wie einer, der bedient“ (vgl. Lk 22,27). Offenbar wurde den Aposteln erst nach seiner Auferstehung – besonders nach seiner Himmelfahrt, als der Heilige Geist herabkam – klar, wer da bei ihnen gewesen war.

Als alles vorbei war, wussten sie es, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Hier sehen wir, wie ich glaube, die Spur eines allgemeinen Grundsatzes, dem wir sowohl in der Heiligen Schrift als auch in der Welt immer wieder begegnen: Gottes Gegenwart wird nicht in dem Augenblick wahrgenommen, in dem sie uns begegnet, sondern erst nachher, wenn wir auf das zurückblicken, was geschehen und vorbei ist. […] Es widerfahren uns angenehme oder schmerzliche Dinge; wir wissen nicht, was sie bedeuten, wir erkennen nicht die Hand Gottes in ihnen. Wenn wir wirklich Glauben haben, bekennen wir, was wir nicht sehen, und nehmen alles, was geschieht, als von ihm kommend an; ob wir es aber nun in gläubiger Haltung annehmen oder nicht, wir haben auf jeden Fall keine andere Möglichkeit, als es anzunehmen. Wir erkennen nichts. Wir verstehen nicht, warum die Dinge so kommen, oder in welche Richtung sie gehen. Jakob rief bei einer Gelegenheit aus: „Alles ist gegen mich!“ (vgl. Gen 42,36), und so schien es auch zu sein. [… ] Und doch wirkten alle diese Dinge zum Guten. Oder verfolgt das Schicksal des bevorzugten und heiligen Jünglings, der ihm als erster genommen wurde: von seinen Brüdern an Fremde verkauft, nach Ägypten verschleppt, in eine sehr gefährliche Versuchung gelockt, die zwar überwunden, aber nicht belohnt wurde, ins Gefängnis geworfen, so dass die Eisenketten bis in seine Seele drangen, dort wartend, bis der Herr gnädig sein und „vom Himmel herabschauen“ (vgl. Jes 63,15) würde; aber warten – warum? Und wie lange? Immer wieder heißt es in der heiligen Erzählung: „Der Herr war mit Josef“ […]. Erst im Nachhinein erkannte er, was damals so rätselhaft war: „Gott aber hat mich vor euch hergeschickt“, sagte er zu seinen Brüdern, „um euer Leben zu erhalten. Nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott“ (vgl. Gen 45,7-8). […] Welch wunderbare Vorsehung, die so still und doch so wirksam, so beständig und unfehlbar ist! Sie ist es, die Satans Macht außer Kraft setzt. Der kann in dem, was vor sich geht, die Hand Gottes nicht erkennen.

Quelle: Evangelizo

Zuletzt geändert: 5 May 2025